URS BOESCHENSTEINTENGO TIEMPO |
Es regnete. Die Wolken hingen tief.
Alles war feucht, Pyrenäenwetter. Er fröstelte, obwohl es nicht
kalt war; typisches Pyrenäenwetter im Juni. Die letzten Wochen waren
sonnig und heiss gewesen, viel zu heiss für seinen Geschmack. Viele
Morgen war er schon vor Sonnenaufgang unterwegs, über Mittag war "Siesta”.
So war er durch Frankreich gekommen, durchs Massif Central, über die Garonne, durch das Land der Armen Jacken, bis nach Valcarlos unten am Pass der nach Roncevalles führt. Er war unterwegs, schon fast dreissig Tage. In Einsiedeln bei der Schwarzen Madonna war er losgefahren, er wollte zum Heiligen Jakob in Compostella. Bergsteigen war er gewohnt, so war es durch die Auvergne, aufsteigen um siebenhundert Meter, Abfahrt tausend Meter, neuer Aufstieg achthundert Meter und dann die Hügel des Armagnac, aufsteigen, runter, aufsteigen, runter, schier endlos. Heute gings über die Pyrenäen. Er rechnete mit vier Stunden Aufstieg und es regnete."Wieso mach ich das nicht wie alle vernünftigen Leute mit den Auto?” fragt er sich zum hundertsten Mal. Er hatte sich die Frage schon gestellt im Entlebuch, als ihm der untrainierte Arsch weh tat. "Umkehren, Velo in den Keller stellen, Auto nehmen, vernünftig. Spinnsch eigentli?” Und er fuhr weiter. Jeden Tag ein neues Stück Weg, jeden Tag ein paar Stunden unterwegs, jeden Tag ein Stück näher am Ziel: SANTIAGO. "Ultreia!” sagten die Pilger im Mittelalter, bis ans Ende der Welt. Es regnete. Etwas missmutig schob
er sein Velo. Achthundert Meter Aufstieg. Der achtundzwanzigste Tag seiner
Reise. Ultreia. Vorwärts. Was am Morgen in Valcarlos Nieselregen war,
wurde zusehends schwerer. Es goss in Strömen. Unter dem Regenschutz
vermischte sich Schweiss mit Kondenswasser. Alles war feucht, unangenehm
feucht. Man sah keine zehn Meter weit, die Bäume verschwanden im Grau
des Nebels, auf der Asphaltstrasse krochen ersoffene Regenwürmer.
Und es wurde kalt. Das spürte er beim Aufsteigen zwar nicht, er schwitzte.
"Ich habe Zeit! Nicht dann, jetzt
will ich warm haben! Ich habe Zeit!” Im strömenden Regen
zog er seine nassen Sachen aus und holte aus dem trockenen Kleidersack
neue Wäsche. Lange suchte er nach seinen Handschuhen, die hatte er
seit Einsiedeln nie mehr gebraucht. Er hockte wieder im Sattel, weiter,
weiter, um den nächsten Rank tauchte im Regen Roncevalles auf, das
alte Pilgerkloster, und daneben die gesuchte Beiz. Er stellte sein Velo
unters Vordach, trat ein und bestellte in internationaler Zeichensprache
eine Suppe, spanisch sprach er kein Wort.
Tausendzweihundert Kilometer, achtundzwanzig
Tage hatte er gebraucht
Draussen hatte der Regen aufgehört.
Die Wolkendecke brach auf. Am Berghang hinter dem Kloster schien die Sonne.
Die Reise ging weiter -Burguetes.Er trat in den Dorfladen. Zwei schwarzgekeidete,
alte Frauen bedienten.Er kaufte Früchte und Tomaten, kramte spanisches
Papiergeld aus der Tasche, er wollte bezahlen. "Pide para nosotros a Santiago!”
sagte eine der Frauen. "Beten Sie für uns in Santiago!” Geld
wollten sie nicht. Sie wollten, dass der Pilger für sie betete.War
er ein Pilger?
Santiago - 825km , stand auf der
grossen Tafel am Strassenrand. In Santiago sollte er beten. Wie? Er war
unterwegs, noch etwa zwanzig Reisetage bis ans Ziel. Er hatte ein Ziel.
Zwischen Einsiedeln und Roncevalles wusste er auch, wie er dieses Ziel
erreichen wollte: Schnell, so schnell wie möglich, vorwärts,
jeden Tag ein Stück näher am Ziel, bergauf, bergab, weiter, weiter
ans Ziel. Tengo tiempo. Ich habe Zeit.Er brauchte dann dreissig Tage bis
Santiago. In den Bergen, am Foncebadon blieb er ein paar Tage bei
den Bauern. Er half beim Heuen.
So kam ich denn nach zwei Monaten
Reise ans Ende der Welt, nach Finisterre.
CAMINANTE, SON TUS
HUELLAS
WANDERER, DEINE FUSSTAPFEN
Wanderer, einen Weg gibt es nicht! No hay camino. Und ich hatte von zu Hause bis zum Cabo de Finisterre zweitausenddreihundert Kilometer gemacht. No hay camino? In den drei Monaten untätig herumsitzen in Finisterre habe ich die Kunst des Fliegenfangens gelernt. Er war losgezogen. ICH sass am Strand.Er ist ich. Er macht den Weg. Ich denke drüber nach. Ich denke drüber nach, wovor ich Angst habe. Ich denke drüber nach, warum ich rennen muss. Ich habe doch immer Zeit.Wovor renne ich davon? Vor mir selber? In den langen Stunden am Strand von Finisterre überfielen mich Gedanken, die ich nicht wollte, Gedanken, die mir unangenehm waren, Gedanken, die ich verdränge. Ich fing sie ein, wie Fliegen. Dann öffnete ich langsam die Hand und betrachtete meine Gedanken. Und davor soll ich Angst haben? Nein, es geht auch anders. Ich habe in den drei Monaten am Ende der Welt auch gemerkt, dass ich viel zu schnell gereist war. Finisterre muss sich ein Mensch langsam nähern. Drum habe ich zwei Jahre später den Weg noch einmal gemacht, zu Fuss, wie die Pilger im Mittelalter.Erst am Ende der zweiten Reise habe ich in Santiago auch für die beiden alten Frauen gebetet.
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